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Interview
I read, therefore I am
Lucas Zwirner im Gespräch mit Julia Knolle
Foto Wolfgang TillmansLucas Zwirner hat Philosophie und Literatur in Yale studiert, in Rekordzeit. Er hat tausende Bücher gelesen. Er meditiert zweimal am Tag für 20 Minuten. Er ist Programmleiter von David Zwirner Books, dem Verlag, der zur Galerie seines Vaters, des New Yorker Kunsthändlers gehört. Wir trafen den 27-Jährigen in London zu einem Gespräch über wichtige Lektionen, gute Bücher und die Fähigkeit, sich selbst regelmäßig infrage zu stellen.
Hide TextHerr Zwirner, werden Sie oft unterschätzt?
Ja, es kommt ab und zu vor, dass ich in die Schublade »arrogant, privilegiert, bevorzugt« gesteckt werde, aber genau da greift der Ehrgeiz, mein Gegenüber vom Gegenteil zu überzeugen. Wenn es die Chance auf ein Gespräch gibt und es gelingt, ein gemeinsames Thema zu finden – das kann Philosophie oder auch Fußball sein – bricht das Eis meist schnell. Dieser Austausch mit vielen verschiedenen Charakteren ist einer der Lieblingsaspekte meines Jobs. Und wenn es Eines gibt, was ich in den vergangenen Jahren gelernt habe, dann sicher, wie man aus dem einsamen, akademischen Elfenbeinturm ausbricht und Zugang zu anderen Menschen findet.
Wie kam es zu dieser Erkenntnis?
Ich habe innerhalb von vier Jahren den Abschluss in Philosophie und Literatur an der Universität in Yale gemacht. Während dieser Zeit lebte ich unglaublich zurückgezogen, fast schon sozial isoliert. Ich habe bestimmt tausende Bücher gelesen und mich obsessiv mit den Inhalten der Universitätskurse auseinandergesetzt. Als das Studium vorbei war, fiel mir auf, dass ich vielleicht zwei Freunde hatte und kurz vorm Burn-out stand. Ich war 22 und viel zu sehr in meinem Kopf gefangen. Ich ging dann für sechs Monate nach Los Angeles, um das Oral History Project zu realisieren. Es ist dem Künstler Jason Rhoades gewidmet, der im Alter von 41 Jahren viel zu früh verstorben ist und mir sehr nahestand. Für das Projekt habe ich Interviews mit mehr als 50 seiner Weggefährten geführt. Diese vielen Gespräche waren ein guter Kontrast zu der eintönigen Routine, die mein abgekapseltes Studentenleben mit sich gebracht hat.
Im Anschluss haben Sie ein Jahr lang im New Yorker Stadtbezirk Harlem Englisch unterrichtet. Was haben Sie dabei gelernt?
Vor meiner Zeit in Kalifornien wollte ich eigentlich Schriftsteller werden. Doch dann wurde mir klar, dass ich das gar nicht möchte. Man verbringt 99 Prozent seiner Zeit am Schreibtisch, allein mit sich und seinen Gedanken. In New York bewarb ich mich bei einer Charter School, an der man auch ohne klassische Lehrerausbildung unterrichten kann. Ich wurde angenommen, doch nach sechs Wochen hätte ich am liebsten alles hingeschmissen. Die Klasse war chaotisch, es wurde viel gebrüllt und es gab permanent Gegenwind von den Schülern. Sieben Kilo leichter und nervlich angeschlagen bat ich den Direktor, mich zu entlassen. Doch stattdessen redete er mir gut zu, ermutigte mich durchzuhalten, und beförderte mich. So ging ein Jahr vorbei, in dem ich einerseits ein dickes Fell entwickelt, aber vor allem gelernt habe, tiefe Empathie für Menschen aufzubringen – unabhängig davon, mit wie viel Ablehnung sie dir begegnen.
Letztendlich sind Sie 2015 in den Verlag Ihres Vaters eingestiegen. Welche Aufgaben kamen auf Sie zu?
Anfangs habe ich mich um die Texte für die Ausstellungskataloge gekümmert. Wir wollten das Portfolio an Autoren ausweiten, nicht mehr nur Kunsthistoriker, sondern auch kluge Köpfe aus anderen Fachbereichen zu Wort kommen lassen. Diese Leute an Bord zu holen war im ersten Jahr meine Aufgabe als Editor. Dann habe ich angefangen, immer enger mit Julia Joern zusammenzuarbeiten. Sie hat zehn Jahre lang die Marketing-Abteilung der Galerie geleitet und war eine Mentorin für mich. Von ihr kam auch die Idee zu den Donald Judd Writings. Das Buch ist bis heute einer unserer Bestseller. Danach wurde der Verlag immer größer und wir haben gemeinsam ein Team aufgebaut. Später folgten weitere Titel, wie Tell Me Something Good: Artist Interviews from The Brooklyn Rail oder Catalogue Raisonné of Paintings von Luc Tuymans, den wir in Kooperation mit Yale University Press herausbrachten.
Das Verlagsportfolio hat sich also mit Ihnen weiterentwickelt. Wie ist die Idee zu der ekphrasis-Serie entstanden?
Ein Schritt folgte auf den nächsten, wir wurden experimentierfreudiger und haben erkannt, dass die neu geschaffenen Inhalte Zuspruch bei unserer Zielgruppe fanden. Ich entwickelte dann ein Konzept, das auf Publikationen konzentriert ist, die sich in schlauen aber zugänglichen Texten mit Kunst beschäftigen. Der Begriff »ekphrasis« kommt aus dem Griechischen und steht für die lyrische Beschreibung von Kunstwerken, oft nach eigener Anschauung. So entstand eine Reihe von Büchern, die Werke von Autoren beinhaltet, die so bisher noch nicht veröffentlicht wurden. Werke, die unkonventionelle Sichtweisen enthalten oder die noch nie zuvor ins Englische übersetzt wurden.
Wie zum Beispiel Pissing Figures 1280-2014 von Jean-Claude Lebensztejn?
Ja, dahinter steckt eine lustige Geschichte. Der Kunsthistoriker Richard Shiff wies mich auf Jean-Claude Lebensztejn hin, ein bisher in Amerika eher unbeachteter französischer Autor. Ich versuchte, Kontakt zu ihm aufzunehmen, doch er reagierte einfach nicht. Also flog ich nach Paris und nervte ihn so lange, bis er sich Zeit für mich nahm. Wir saßen dann irgendwann früh morgens zusammen. Ich fragte ihn, ob er nicht zufällig eine Arbeit hätte, die noch nicht gedruckt worden war. Und er zog das Manuskript für Pissing Figures aus der Schublade: eine Motivanalyse des »Wasserlassens« in der Kunst, die sich gleichzeitig mit Freiheit und Beschränkungen auseinandersetzt. Angefangen bei Manneken Pis über Fresken aus dem 13. Jahrhundert bis hin zur Hommage an pinkelnde Frauen von Rembrandt durch eine Werkreihe der südafrikanischen Künstlerin Marlene Dumas zwischen 1996 und 1997.
Geschieht es häufiger, dass Sie Hinweise und Anregungen für Publikationen bekommen?
Tatsächlich kommen Empfehlungen oft von befreundeten Autoren. So war es auch bei The Psychology of an Art Writer von Vernon Lee, eine weitgehend übersehene Schriftstellerin, die im 19. Jahrhundert eine Männerdomäne durch ihre scharfe Beobachtungsgabe aufrüttelte. Mein Studienfreund Dylan Kenny hat mich auf sie gebracht und auch das Vorwort im Buch geschrieben. Auf Letters to a Young Painter von Rainer Maria Rilke zum Beispiel bin ich aber durch Zufall gestoßen. In einer Fußnote in Rachel Corbetts You Must Change Your Life – ein Buch, das die Freundschaft von Auguste Rodin und Rilke dokumentiert – entdeckte ich, dass Briefe existieren, die der Lyriker an den damals noch sehr jungen Maler Balthus schrieb. Ich konnte kaum fassen, dass diese Briefe bisher noch nicht übersetzt und für den amerikanischen Markt zugänglich gemacht worden waren.
Sie bedienen mit den Publikationen bei David Zwirner Books eine Nische. Ist das Ihr Erfolgsgeheimnis?
Der Erfolg eines guten Verlags baut in erster Linie auf guten Inhalten auf. Wir wollen Wissen in Buchform vermitteln, das zum Teil jahrhundertealt ist und einen besonderen Zugang zu Künstlern bietet. Ich freue mich, wenn jemand so viel Vertrauen zu uns aufgebaut hat, dass er sich an Themen herantraut, die ihm sonst vielleicht verborgen geblieben wären. Selbst wenn die Person bei einem Titel aus der ekphrasis-Serie erst einmal nur eine Seite liest, beim nächsten vielleicht ein Kapitel und irgendwann dann ein komplettes Buch – das ist doch großartig! Dieses serielle Konzept, das in Deutschland bei Reclam und Suhrkamp oder in Frankreich bei Éditions Gallimard funktioniert, hat sich auch für uns bewährt. Wir sind uns gleichzeitig bewusst, dass wir mit unserem Angebot in Konkurrenz zu Gütern aus den Bereichen Mode, Tech, Unterhaltung, Wellness und Sport stehen. Im Silicon Valley hat jeder verstanden, dass Inhalte allein nicht ausreichen, sondern vor allem ein ansprechendes Design die Abverkäufe ankurbelt. Nach diesem Gesetz funktioniert auch unsere Branche: Bücher müssen inhaltlich stark sein, gut aussehen und sich auch so anfühlen.Woher wissen Sie, dass es sich lohnt, ein Buch oder einen Autor in Ihr Repertoire aufzunehmen?
Genau dieser Instinkt macht einen guten Publisher aus: Seine Aufgabe besteht darin, ständig ein offenes Ohr zu haben, gut zuzuhören, nachzufragen und wenn es darauf ankommt, schnell zu reagieren und die richtigen Entscheidungen zu treffen. Nur so konnten wir eine Plattform schaffen, die tollen Autoren die Möglichkeit gibt, ihre Gedanken mit einer größeren Leserschaft zu teilen. Mittlerweile werden mir wirklich talentierte, junge Menschen vorgeschlagen, die ich so nicht selbst entdeckt und vielleicht früher nicht beachtet hätte, weil sie keinen Doktortitel in Philosophie oder Literatur haben. Ein Beispiel dafür ist Charlie Fox. Er ist jung, 1991 geboren, ein hochintelligenter Schriftsteller und hat bei Fitzcarraldo, dem Verlag meines guten Freundes Jacques Testard, vergangenes Jahr das Buch This Young Monster herausgebracht. Darin geht es um die Frage, was es bedeutet, ein Freak zu sein. Es handelt von Künstlern, die für ihre Arbeit ans Äußerste gehen. Ein weiteres Beispiel ist mein guter Freund Jarrett Earnest, von dem wir nun What it Means to Write About Art: Interviews with Art Critics veröffentlichen.Welches Buch hat Sie persönlich am meisten geprägt?
Mit 18 habe ich Der Beruf des Dichters von Elias Canetti gelesen. Der Autor erklärt darin, dass die Idee der Verwandlung das Schlüsselkonzept für jede Form von kreativer Arbeit ist. Die Leistung eines Dichters wird dadurch perfektioniert, dass er sich in komplett andere Geisteszustände hineinversetzen kann. So, wie es bei Ovids Metamorphosen oder Homers Odyssee der Fall ist. Das Aufrechterhalten dieses Leitgedankens hat mir persönlich die Augen für den Zugang zur Kunst geöffnet. Ich erinnere mich aber auch noch an das erste Buch, das in meinem Leben eine große Rolle gespielt hat: Momo von Michael Ende. Mein Vater hat mir früher daraus vorgelesen. Als ich dann irgendwann selbst lesen konnte, habe ich ganze Wochenenden mit Büchern im Bett verbracht und literweise schwarzen Tee getrunken, um noch mehr Inhalte aufsaugen zu können. Nicht selten bekam ich dabei migräneartige Kopfschmerzen.Und welches Werk hat Sie dazu bewegt, Literatur zu studieren?
Mein Interesse an Literatur kam eigentlich durch die Philosophie. Ein Lehrer hatte mir zu Schulzeiten A History of Western Philosophy von Bertrand Russell ans Herz gelegt. Danach wollte ich unbedingt die großen Philosophen lesen und war froh, bei der Pflichtlektüre von Kant, Heidegger, Nietzsche und Fichte grundlegende Deutschkenntnisse von zuhause mitbekommen zu haben. Im Studium bin ich dann in die Literatur hineingerutscht, weil mir die streng reglementierten Ansätze der Philosophie ein wenig zu engstirnig erschienen.Dabei hätte man annehmen können, dass das Studium dieser namhaften Philosophen und Ihre Bestrebungen, Bestehendes konstant infrage zu stellen, die Grundvoraussetzung für Ihre Aufgabe als Innovationsbeauftragter im Familienunternehmen ist…
(Lacht) Es kann schon sein, dass ich derjenige bin, der überdurchschnittlich oft fragt, warum wir Dinge genau so machen, wie wir sie machen. Oft kommt dann die Antwort: »Weil das schon immer so war.« Meistens hat das auch seine Berechtigung. Der Innovationsbeauftragte bin ich aber definitiv nicht. Alles, was an neuen Ideen und Formaten bei David Zwirner Books entwickelt wird, entsteht durch Teamwork. Das ist einer meiner wichtigsten Lernprozesse der letzten Zeit: Gemeinsam schafft man so viel mehr und so viel Wertigeres. Deshalb lohnt sich jeder Aufwand, um auf dem Weg zum Ziel immer weitere Abnahmeschleifen und Feedback-Runden einzubauen.Nachdem das Leben Ihnen nun schon so einige Lektionen erteilt hat: Wann haben Sie sich zuletzt eines Besseren belehren lassen und Ihre eigene Ansicht neu überdacht?
Bis vor Kurzem war ich überzeugt, Podcasts seien für Menschen, die zu faul zum Lesen sind. Jemand empfahl mir S-Town, eine sehr clever erzählte Kriminalgeschichte von den Machern von Serial, des bisher erfolgreichsten Podcasts aller Zeiten, und von This American Life. In S-Town geht es um einen jungen Mann, der in seiner Heimatstadt in Alabama einem Verbrechen nachgehen will und dabei auf unvorhersehbare Abgründe stößt. Danach wusste ich zu schätzen, welchen Mehrwert diese Form von Storytelling hat. Die Stimme des Erzählers kann so viel Emotion in eine Geschichte bringen und den Spannungsbogen auf ganz besondere Weise unterstreichen. Diese Erkenntnis hat uns letztendlich auch dazu inspiriert, Dialogues zu produzieren, eine Podcast-Serie, in der wir zwei Akteure aus verschiedenen Disziplinen zum Gespräch bitten.Wenn Spannung und Emotion einen guten Podcast ausmachen, was macht Ihrer Meinung nach gute Literatur aus?
Ich glaube, gute Literatur funktioniert wie die besten Gespräche: Man nimmt daraus Bereicherndes mit, fühlt sich aber an keinem Punkt didaktisch belehrt. Ein Buch sollte unterhaltsam sein, es sollte überraschen und im Idealfall zum Nachdenken anregen und den Horizont erweitern. All das tut übrigens das Buch, das ich gerade im Urlaub in Afrika gelesen habe: Mating von Norman Rush aus dem Jahr 1991. Es spielt in Botswana, und es ist verrückt, wie gut sich der Autor in die weibliche Hauptfigur hineinversetzen kann, aus deren Perspektive die Geschichte erzählt wird. Quasi eine gelungene Umsetzung der Verwandlungsidee von Elias Canetti.Brauchen Sie hin und wieder auch einmal eine Pause von der Literatur? Was tun Sie, um den Kopf freizubekommen?
Sport hilft immer – sich bewegen und schwitzen. Seit einiger Zeit meditiere ich außerdem zweimal täglich für 20 Minuten, einmal direkt nach dem Aufstehen und noch einmal spätnachmittags. Um ehrlich zu sein, war der Weg dorthin mit großen Vorbehalten gepflastert. Aber nachdem ich monatelang Schlafprobleme hatte und nie richtig abschalten konnte, bin ich dem Rat meiner Mutter gefolgt und habe eines dieser Zentren für Transzendentale Meditation besucht. Tatsächlich wird man durch diesen auf das Wesentliche reduzierten Blick ins eigene Innere so viel belastbarer und ausgeglichener. Das lernt man in keinem Buch.Continue ReadingBack to Overview