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Interview
»Es ist kompliziert«
Eva Munz spricht mit Siri Hustvedt
Foto Geordie WoodSiri Hustvedt ist eine progressive Feministin und
eine altmodische Universalgelehrte. Als sie vor
ein paar Jahren an Zitteranfällen litt, dehnte sie ihren
hemmungslosen Bildungshunger auf die
Neurowissenschaften aus und erforscht seither das komplexe Gefüge aus Bewusstsein, Identität und Geschlecht. In ihrem Haus in Brooklyn sprachen wir mit
der Schriftstellerin über die Angst vieler Männer
vor Lyrik und die Notwendigkeit kollektiver Raserei.Hide TextAls Schriftstellerin bauen Sie Brücken zwischen den Künsten und den Wissenschaften. Kann man das als eine Chiffre für die Vermittlung zwischen Mann und Frau verstehen?
Wir haben die Tendenz, vor allem in westlichen Kulturen, Dinge als männlich oder weiblich zu identifizieren, auch wenn ihnen keinerlei Geschlechtsattribute zugrunde liegen. Menschen sind von ihrer Sexualität geprägt, die Mathematik ist es sicher nicht. Dennoch sehen wir die Mathematik als männliche Disziplin und die Dichtung als weibliche. In einem meiner Essays spreche ich zum Beispiel darüber, dass eine Physikerin durch ihren Beruf automatisch als maskuliner wahrgenommen wird. Eine Lyrikerin hingegen wird als doppelt feminin wahrgenommen, da Gedichte einer romantischen Welt zugeordnet werden, die offiziell im weiblichen Geschäftsbereich liegt. Mit meinem Mann sah ich neulich einen Dokumentarfilm über den berühmten Dichter Robert Frost. Er erzählte, wie sich Männer nach seinen Lesungen Bücher signieren ließen und dabei sagten: »Ich lese keine Gedichte, meine Frau mag das aber, würden Sie ihr das bitte widmen?« Ich bin fast explodiert vor Lachen. Männer fühlen sich entmannt, wenn sie Lyrik lesen. Sachbücher sind der wahre, der ernsthafte Stoff. Das ist absurd!
Beobachten Sie das auch persönlich?
Wenn ich einen wissenschaftlichen Vortrag halte, sitzen vor allem Männer im Publikum. Und wenn ich aus einem Roman lese, kommen zu 80 Prozent Frauen. Das muss man sich mal vorstellen. Feministische Theoretiker untersuchen dieses Phänomen schon länger und haben herausgefunden, dass in dem Augenblick, in dem mehr Frauen in einen bestimmten Bereich drängen, etwa in die Psychologie, die Medizin, die Juristerei, die jeweilige Disziplin sofort an Prestige einbüßt. Nur Disziplinen, die in männlicher Hand bleiben, können ihren Status verteidigen.
Das ist erstaunlich rückständig. Liegt das ausschließlich an den Männern?
Das liegt natürlich nicht nur an den Männern. Auch Frauen nehmen die Welt auf diese Weise wahr, es ist ein strukturelles Problem, alle sind daran beteiligt. Wenn wir uns nicht damit befassen, dann werden wir diese Problematik auf ewig einfach weitertragen. Ich war neulich auf einer Konferenz, wo eine superschlaue Denkerin mir ins Wort gefallen ist, mitten im Satz hat die mich abgeschnitten. Ich war schockiert, bis mir klar wurde, dass sie mir nur deshalb als so aggressiv erschien, da sie eine Frau ist. Bei einem Mann wäre mir das wahrscheinlich kaum aufgefallen. Ich bin jemand, die sich zur Aufgabe gemacht hat, derartige Konditionierungen zu erkennen, und selbst ich missinterpretierte das Verhalten dieser Frau. Unseren Vorurteilen sollten wir uns immer wieder stellen.
Wie kommt es, dass die Mehrheit der weißen Amerikanerinnen bei der letzten Präsidentschaftswahl ihre Stimme einem misogynen Monster gegeben hat?
Als die Ergebnisse hereinkamen und man sehen konnte, dass 52 Prozent der weißen Frauen Trump gewählt haben, da war ich doch erstaunt. Er hat mittlerweile sicher an Unterstützung eingebüßt, aber man fragt sich schon: Worum geht es da eigentlich? Meines Erachtens geht es um Muster der Identifikation. Ich selber zum Beispiel bin eine weiße, gebildete Amerikanerin, die in New York City lebt, die ziemlich hochgewachsen ist und gern Haferschleim verspeist. Es gibt unzählige dieser Muster. Vielen Wählerinnen waren ihre weiße Haut, ihr Konservativismus und die Beziehung zu ihren Männern wichtiger als ihr Selbstverständnis als Frau, obwohl sie damit eine Situation befördert haben, aus der sie als Verliererinnen hervorgehen werden.
Wie wirkt sich toxische Männlichkeit ganz konkret auf Siri Hustvedt aus, auf Sie als Denkerin, Autorin, Bürgerin, hier in Brooklyn?
Im Gegensatz zu einem Mann in meiner Position gibt es da tatsächlich noch Berührungspunkte. Jetzt, wo ich alt bin, nein wirklich, jetzt, wo ich älter werde, fällt es mir sogar leichter, Sexismus zu identifizieren. Bei jedem akademischen Vortrag zum Beispiel gibt es mindestens einen Mann im Publikum, der seine Frage gut vorbereitet hat und irgendwie sauer auf mich ist. Da gibt es nur zwei Möglichkeiten. Entweder lässt man ihn abblitzen, vielen Dank, Blabla, okay, nächste Frage. Da es einfach zu blöde ist, um sich darauf einzulassen. Es gibt aber auch Momente, in denen ich diese Person auseinandernehme. Ich bedanke mich für die Frage, ich führe aus, warum der Mann falsch liegt, und zwar exakt aus diesen Gründen, die ich dann aufzähle, und ich ziehe das so lange durch, bis mein Gegenüber sich hinsetzt und endlich den Mund hält. Mein Wissen ist Macht, ich höre mir diesen Scheiß nicht mehr an, wenn das alles am Thema vorbeigeht, wenn da nur so ein kleiner Wicht steht, der sich von einer Frau nichts anhören will. Es gibt natürlich eine ganze Menge Männer, die sich so etwas gern von einer Frau anhören und kein Problem haben, um das hier mal klarzustellen. Und ich habe das sogar schon bei Frauen erlebt. Einmal waren zwei Frauen richtig verärgert, dass ich irgendeinem blasierten Doktor-Schnösel widersprach. Aber selbstverständlich sind es meistens Männer.
Derartiges Verhalten ist immer noch verbreitet?
Als ich mit meinem Roman »Die gleißende Welt« auf Lesetour war, wurde ich zu einer Radiosendung eingeladen. Ich hatte angekündigt, dass ich über Margaret Cavendish sprechen wollte. Der Moderator war total nett, hatte wohl über sie recherchiert, gab mir dann aber einen Text zu lesen, den ihr Ehemann geschrieben hatte, seine Lobrede nach ihrem Tod. Und da ich so überrascht war, habe ich das brav vorgelesen. Später wurde mir klar, wie mein Versuch, über eine hochintelligente Philosophin und Autorin zu sprechen, deren Arbeit über 300 Jahre lang belächelt und unterdrückt wurde, sabotiert wurde durch diesen sentimentalen Text eines Ehemannes. Und als ich meinen Ehrendoktor in Neurowissenschaften bekam, sprach der Journalist, der das Gespräch moderierte, hauptsächlich mit den anderen Neurowissenschaftlern auf der Bühne, allesamt Männer. Das war ein Event zu meinen Ehren, ja? Und irgendwann drehte er sich zu mir um und sagte: »Ich habe gehört, Ihr Mann liest hundert Bücher im Monat.«
Haben Sie Bewältigungsmechanismen?
Damals dachte ich nur: jetzt bloß nicht ausflippen! Du darfst Wut spüren, aber nicht zeigen. Also habe ich mich zusammengerissen und gesagt, ich glaube, das war ein Fehlstart, lassen Sie uns das Gespräch doch noch mal neu konfigurieren und uns fragen, was die Wissenschaft den Künsten zu bieten hat und umgekehrt. Das wäre doch ein guter Einstieg. Ich habe inzwischen eine Menge Techniken, um mit solchen Situationen umzugehen. Das kommt eben immer wieder vor. Und dabei hilft, älter zu sein. Macht und Autorität zu haben. Junge Frauen rennen da ständig gegen die Wand, als hätten sie kein Gehirn im Kopf. Bis sie irgendwann selbst glauben, dass sie nicht gut genug sind. Wir müssen unseren Kindern, und das gilt für Jungen und Mädchen, ein besseres Verständnis dafür vermitteln, wie diese Dinge funktionieren.
Gehen wir einen Schritt weiter, #MeToo. In Europa und vor allem in Frankreich gibt es eine Diskussion darüber, ob die #MeToo-Bewegung auch zu weit gehen kann.
Ich glaube, die Gegenreaktion der Kritik an der Bewegung birgt einige Gefahren. Ich war gerade in Frankreich, als Catherine Deneuve sich äußerte. Wir müssen die Begriffe des sexuellen Missverhaltens präziser definieren. Wer Andere sexueller Übergriffe bezichtigt, soll sehr genau sagen, was die übergriffige Person getan hat, nur dann hilft das der Diskussion. Die meisten Frauen im Kontext der #MeToo-Bewegung haben genau dies getan, und das ist eine gute Sache. »Wir waren im Taxi, mein Kollege griff mich an, er drohte, dass ich meinen Job verlieren werde, wenn ich meinen Mund aufmache.« Das ist eine klare Ansage. Anhand der vielen Beispiele sind nun gewisse Muster entsetzlichen Verhaltens zu erkennen, was hilfreich ist. Ich glaube allerdings nicht, dass irgendein Mensch, ganz egal, wer das ist, sofort in Flammen aufgehen soll, weil ihm irgendwelche nebulösen Dinge nachgesagt werden. Solche fragwürdigen Fälle kritisierte die Autorin Katie Roiphe vor Kurzem im Harper’s Magazine. Da ging ihr #MeToo zu weit.
Wie sehen Sie den Fall von Lorin Stein, Chefredakteur des berühmten literarischen Journals »The Paris Review«, der zurücktreten musste, da er diverse Affären mit Kolleginnen pflegte?
Wir haben da einen Fall von Ambiguität, einer ziemlich komplexen Mehrdeutigkeit. Es bezweifelt niemand, dass er Sex mit all diesen Autorinnen, Angestellten, Praktikantinnen und sonstigen Leuten im Dunstkreis des Magazins hatte. Es wird auch nicht bestritten, dass diese Begegnungen alle einvernehmlich waren. Das Phänomen des Einverständnisses ist allerdings ein kompliziertes, philosophisches. Wir können uns alle darauf einigen, dass Lorin Stein niemanden vergewaltigt hat. Aber dennoch stellt sich die Frage, wie man das Geschehen einordnet. Hatte die Tatsache, dass Lorin Stein sehr viel Macht besaß in der literarischen Welt, Einfluss auf diese sexuellen Begegnungen?
Mit Sicherheit hatte sie das.
Genau. Ich würde behaupten, dass sich die meisten Leute darauf einigen können, dass es keine gute Idee ist, wenn ein Psychologe mit seinem Patienten schläft. Wie unterscheidet sich das vom Verhältnis eines Chefredakteurs zum Autoren? Ist das anders? Wie genau? Warum sehen wir das eine als falsch und das andere vielleicht als akzeptabel an, wenn doch in beiden Fällen eine klare Hierarchie besteht?
Es geht um den Missbrauch von Macht. Ist Ihnen schon mal etwas in dieser Richtung passiert?
Nun, ich kann Ihnen da eine Geschichte erzählen, sie ist nicht besonders dramatisch und ziemlich lange her. Es war nach einem Date hier in New York, ich war noch sehr jung, vielleicht 25, wir waren beim Chinesen oder so was. Ich kann mich kaum erinnern. Ich kann mich nicht einmal an den Namen des Typen erinnern. Jedenfalls verabschiedeten wir uns, und plötzlich fällt er über mich her, knallt mich gegen die Wand, fängt an, mich zu besabbern, meine Brüste und meinen Körper zu begrapschen. Es gelingt mir, mich loszureißen. Ich komme in meiner Wohnung an, verriegle die Tür und das ist das Ende der Geschichte. Ich war erschüttert, ich war gebeutelt, klar. Aber ich war in Ordnung körperlich, ich war nicht verletzt. Dann kam jedoch eine interessante Reaktion. Ich fragte mich, ob ich irgendwas getan hatte, möglicherweise unbewusst, was das Ganze herausgefordert haben könnte. Ich fühlte mich schuldig, und wenn ich jetzt darüber nachdenke, werde ich wütend. Aber ich war nicht traumatisiert. Ich wiederhole: Ich wurde nicht vergewaltigt, ich bin keine #MeToo-Person. Dieser Typ hatte nichts, was ich von ihm hätte haben wollen, er war einfach wie ich ein Doktorand an meiner Uni. Aber selbst auf Augenhöhe ziehen Frauen den Kürzeren. Frauen werden dafür verantwortlich gemacht, was diese Männer mit ihnen tun, weil sie es angeblich herausfordern und so weiter.
Mit Trump im Weißen Haus hat der Diskurs eine neue Dringlichkeit bekommen.
Diese ganze Angelegenheit, dass Trump damit angibt, dass er Frauen sexuell angreift, ihnen an die pussy grabscht und so weiter. Diese Misogynie, die er Hillary Clinton gegenüber zeigte, ist unterschwellig seit ewig ein Teil amerikanischer Kultur, nicht nur bei den Rechten, auch in der Mitte und bei den Linken. Jetzt gelangt das an die Öffentlichkeit und es ist, als würden unsere dunkelsten Dämonen offenbart. Das gebiert Wut, und die Autorin Katie Roiphe hat ganz richtig erkannt, dass es schwer ist, diese unkontrollierte Wut in den Griff zu bekommen. Aber Wut hat schon immer soziale Bewegungen angetrieben. Wut ist ein Teil jeder einzelnen großen Bewegung, die mir einfällt. Kollektive Raserei ist genau das, was essenziell ist. Schlägt diese Wut gelegentlich über? Natürlich! Aber man sollte nicht aus den Augen verlieren, dass wir historische und philosophische Grenzen infrage stellen, auch körperliche Grenzen. Wer darf diese Grenzen ziehen, wer hat die Autorität, sie neu festzulegen? Soziale Bewegungen sind oft unordentlich, manchmal ungeschickt und neigen zu Extremen. Denken wir nur an die Suffragetten damals. Bomben sind explodiert, Fenster wurden eingeschlagen, Golfplätze wurden ruiniert. Sicher, heute kann man fragen, ob ihnen genau diese Aktionen das Wahlrecht gebracht haben, aber keiner würde auf die Idee kommen, ihre Sache infrage zu stellen. Natürlich gibt es schwarze Schafe, die soziale Medien mit Unsinn zutexten, und die sollten sich schämen, aber das sollte nicht von der größeren Diskussion ablenken.
Die ohne die übliche falsche Höflichkeit geführt werden muss?
Die Vorstellung einer wütenden Frau jagt den Leuten immer noch unglaubliche Angst ein und ist sozial völlig inakzeptabel. Um noch mal das Beispiel dieses Typen zu nehmen, der mich gegen die Wand geknallt hat: Ich empfand keine Wut ihm gegenüber, sondern ich richtete die Wut gegen mich selbst. Und das haben Frauen seit Jahrhunderten getan. Wenn sich das zu lange aufstaut, werden daraus Trauer, Schuldgefühle, Selbstzerfleischung und vor allem Scham.
Erlauben Sie sich heute, wütend zu werden?
Das hängt davon ab, ob ich es mit jemandem zu tun habe, der wirklich sexistisch operiert. Zum Beispiel neulich in Polen. Ich unterhielt mich mit einem mir weitgehend Unbekannten über Wissenschaft und Bewusstsein. Und wir redeten eine halbe Stunde ganz freundlich, dann sagte er: »Ich habe das Problem des Bewusstseins gelöst.« Ich sagte: »Ach, wirklich? Ich kann das nicht von mir behaupten, ich denke, wir haben es mit einer andauernden philosophischen und wissenschaftlichen Diskussion zu tun.« Das Gespräch ging hin und her und ich sagte, dass ich seine Annahme für falsch hielte, aus diesem und jenem Grunde. »Haben Sie diesen Aufsatz gelesen? Da nachgeschlagen? Hier recherchiert?« Ich war total freundlich und sachlich. Aber er bezeichnete mich als arrogant. Ich stellte klar, dass er derjenige war, der etwas behauptet hatte, nicht ich. Ich habe ihn dann genötigt, mir zum Abschied die Hand zu schütteln.
In Deutschland würde man gern so tun, als sei Sexismus ein amerikanisches Phänomen. Man versucht sich mit dem Verweis auf Angela Merkel herauszureden: Immerhin haben wir eine Frau an der Spitze des Staates.
Lustig. Das ist ja so, als würde man behaupten, der Rassismus sei mit der Wahl Barack Obamas abgeschafft worden.
Kann es sein, dass die Debatte über Sexismus in den USA die über Rassismus überschattet hat?
Nein, ich glaube eher, dass sie miteinander verbunden sind. Es gibt jetzt ein Wort dafür: Intersektionalität. In Amerika wird immer versucht, Debatten separat zu halten, aber das macht in diesem Fall wenig Sinn, da es bei dieser Frauenbewegung eben nicht nur um Frauen geht – und schon gar nicht nur um weiße Frauen. Wir sprechen hier über Armut, über Zuwanderung, wir sprechen über Rasse, all das gehört zu dieser Diskussion. Bei Trump sind wir uns in diesen Punkten sicher. Trump ist ein echter Rassist. Er ist ein wahrer Misogyn und wirklicher Xenophobiker. Der Mann kann nicht weit denken und er kann offenbar nicht lesen. Man sollte allerdings nicht vergessen, dass sexuelle Übergriffe nicht nur gegen Frauen gerichtet sind, sondern auch gegen Männer. Oft gegen Männer, die jung, arm oder farbig sind. Oder gegen solche, die als feminin wahrgenommen werden. Diese Männer sind auch ein Teil dieses Kampfs, und eben nicht nur ein Haufen weißer Ladys, die sich über das Nichts beschweren. Es ist kompliziert.
Einer der Gründe für die Wahrnehmung der Deutschen ist wohl, dass Angela Merkel Wissenschaftlerin ist und physisch als eine Art Un-Frau, als quasi asexuell empfunden wird. Wie beurteilen Sie das? Welche Erklärung haben Sie dafür?
Erinnern Sie sich, als sie dieses ausgeschnittene Kleid trug? Die Leute riefen: »Sie hat Brüste!« Natürlich hat sie Brüste. Sie haben total Recht. Ich glaube, Angela Merkel hat sehr lange, und das muss man ihr hoch anrechnen, sie hat lange als die leicht verdauliche Version einer Frau funktioniert anstatt als feminin oder sexuell. Fast alle Frauen wirken weniger bedrohlich, wenn sie älter werden. Als junge, vor allem als fruchtbare Frau und vor allem in der Kunst wird man brutal unten gehalten. Die Arbeit wird unterschätzt, sie wird als kaum mehr denn als persönlicher Müll behandelt. Und es ist wirklich schwierig, über diese Hürde hinwegzukommen.
Warum wollen Männer diese Energie zähmen?
Nun, die ist sehr gewaltig. Jeder Mensch wird ja aus dem Körper einer Frau geboren und ich glaube, dieses Detail ist sehr bezeichnend. In einem deutschen Magazin habe ich einmal darüber geschrieben, dass es keine Darstellungen von Geburten in der westlichen Kunst gibt, bis hinein in die 70er-Jahre. In der hinduistischen Kultur und in anderen hingegen gibt es einen Reichtum an Bildern und Skulpturen von Babys, die aus dem Geburtskanal kommen. Das ist ja eines der alltäglichsten menschlichen Ereignisse. Und die erste Trennung des Kindes von der Mutter produziert Angst. Menschliche Kleinkinder sind anders als neugeborene Tiere, sie sind extrem abhängig. Wenn du einen Säugling hinlegst und weggehst, dann stirbt der irgendwann. So wurden in der Antike die Griechen ihre Mädchen los. Und die Vorstellung, von einer Frau so abhängig zu sein, ist sehr ungemütlich in der westlichen Welt, wo es immer um Autonomie und Unabhängigkeit geht. Da quält viele diese Vorstellung einer nährenden Frau. Es funktioniert besser, wenn die Frau zum Mann aufsieht, ihr Gesicht von Bewunderung erleuchtet, das ist dann kein Problem. Viele Frauen, selbst erfolgreiche, brillante, umwerfende Frauen, spielen das mit, da sie damit der Strafe entgehen. Was fällt dir ein, so resolut zu sein, so beharrlich, so viele Meinungen zu haben, zu insistieren, intellektuelle Ansprüche zu haben? Man wird ständig dafür bestraft. Jetzt bin ich zu alt geworden, ich habe genug davon, ich spiele nicht mehr mit. Es ist mir mittlerweile egal, was die Leute denken. Aber ich habe Glück. Ich bin privilegiert. Ich unterrichte zwar gerade ein Seminar in Psychiatrie am Weill Cornell Medical College, aber diesen Job werde ich nicht verlieren. Und selbst wenn, dann wird sich mein Leben nicht grundlegend verändern oder existenziell gefährdet sein. Denn mein Hauptjob ist, in mein Arbeitszimmer zu gehen und zu schreiben.
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