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Als sie den Ort zum ersten Mal sah, hat er sich vor ihr versteckt. Sie hat das nie vergessen: Es war Herbst, ein Wolkenteppich ruhte auf dem Bodensee, Nebel hatte sich zwischen Heiligenberg und die Welt geschoben. Er war kurzzeitig wie vom Erdboden verschwunden.
Kam aber wieder. Seit fünf Jahren ist das Schloss am Nordufer des Bodensees das Zuhause von Jeannette Erbprinzessin zu Fürstenberg. Sie hat sich in einem der vielen Zimmer ein gemütliches Büro eingerichtet, ein zweites unterhält sie in Berlin. Anders als die Prinzessinnen früherer Tage hat die 36-Jährige richtig viel zu tun: mit Quantenalgorithmen, die in der Mole-kularforschung eingesetzt werden. Mit Computerchips, die helfen, künstliche Intelligenz zu erschaffen. Mit fliegenden Autos und mit Blockchain. Bald schwirrt einem der Kopf, so viele Dinge interessieren sie – und so viele Dinge treiben sie voran. Sie hat in München, Paris und London Ökonomie studiert und einen Doktor in Philosophie gemacht, investiert in Start-ups und findet, dass wir eine neuzeitliche Salonkultur brauchen. Zusammen mit René Obermann, ehemals Vorstandsvorsitzender der Deutschen Telekom und heute Partner bei Warburg Pincus, lädt sie CEOs und GründerInnen zu einer jährlichen Konferenz in die alten Gemäuer ein, um Ideen auszutauschen.
Jeannette zu Fürstenberg, ihr Mann Christian und die beiden Kinder Tassilo und Cecilia sind die ersten Menschen seit mehreren Jahrhunderten, die dauerhaft auf dem Renaissance-Schloss leben. Dass das überhaupt möglich ist, dafür ist vielleicht sogar derselbe Nebel verantwortlich, der heute noch das in 700 Metern Höhe gelegene Bauwerk wegzuzaubern vermag. Die Pulverladungen, mit denen Soldaten es während des Dreißigjährigen Krieges sprengen sollten, waren schon platziert. Bloß: Sie zündeten nicht. War das Pulver feucht? Hatte Nebel die Söldner entmutigt? Man wird es nie erfahren. Eines steht fest: Schloss Heiligenberg ist ein außerge-wöhnlicher Ort, bewohnt von einer ungewöhnli-chen Frau, ein Ort, an dem Vergangenheit und Zukunft Tür an Tür leben.
Die Unternehmertochter ist gerade mit dem dritten Kind schwanger und ein auf entspannte Weise aufmerksames Gegenüber. Wir reden über Kunst und Literatur, sie zitiert Peter Handke und benutzt dann immer mal wieder Begriffe, die man sich als Nichtinvestor erst einmal rückübersetzen muss, Seed Stage zum Beispiel. Das ist das Stadium, in dem sie am liebsten in Firmen investiert: ganz am Anfang, wenn man Fantasie braucht und Mut, um Geld in eine Idee zu stecken, die auf der Zukunft aufbaut und nicht auf dem Erprobten. Disruptiv zu denken ist dafür eine Grundvoraussetzung, also grundsätzliche Fragen zu stellen nach dem Wie und Warum. »Mein Wunsch ist es, das Neue in die Welt zu tragen, wie Joseph Schumpeter das Unternehmertum einmal definiert hat«, sagt Jeannette zu Fürstenberg.
Dabei hilft, wenn man weit blicken kann. Schon die ursprünglichen Erbauer des Schlosses, die Grafenfamilie von Heiligenberg, müssen den Weitblick von dem 730 Meter hohen Plateau geschätzt haben. Sei es, um nahende Raubritterhorden frühzeitig auszumachen oder um sich, wie die Fürstenberger es noch heute tun, an den kreisenden Bussarden und Störchen zu erfreuen, am dichten Wald, den Wolken über dem Bodensee und dem rasiermesserscharf gezeichneten Profil des Bergmassivs Säntis in der nahe gelegenen Schweiz. Das ursprüngliche Gemäuer, errichtet 1250, kam 1535 durch Heirat an die Familie ihres Mannes. Und die Fürstenberger entschieden: Wir machen das jetzt richtig schön! Drei Flügel wurden ergänzt, im Südflügel liegt das Prunkstück des Hauses: der lichtdurchflutete Rittersaal mit seiner Kassettendecke. Dieses Juwel der deutschen Spätrenaissance ist einer von wenigen gut erhaltenen Prunkräumen aus der Epoche der technischen Innovation und der kulturellen Umbrüche.
Im 18. Jahrhundert starb die Heiligenberger Seitenlinie des Fürstenhauses aus, das Schloss wurde nur gelegentlich genutzt. Deshalb hat nie eine Kernsanierung stattgefunden und das meiste hat Jahrhunderte überdauert. Als der Erbprinz und die Erbprinzessin 2013 einzogen, waren die Fenster einfach verglast und die Stromkabel stoffummantelt. Nach den Renovierungsarbeiten sind zwei Flügel winterfest. Die anderen beiden sind dem Sommer vorbehalten.
Aber warum lebt man im ausgehenden Jahr 2018 überhaupt in so einem riesigen, alten Haus? Warum umgibt sich jemand, der sich beruflich mit künstlicher Intelligenz und anderen technologischen Revolutionen beschäftigt, mit Brokat und alten Schnitzereien? »Du kannst die Substanz eigentlich nur dann schützen und erhalten, wenn du darin lebst, weil du dann jeden Tag siehst, was am Haus zu tun ist«, erklärt zu Fürstenberg. Außerdem habe sich die Familie in den Ort verliebt.
Anfangs, sagt Jeannette, haben sie versucht, das Ganze etwas aufzubrechen. Aber die Architektur ist so geschlossen, die Innenausstattung handwerklich und künstlerisch auf so turmhohem Niveau, dass kein modernes Möbel dagegen ankommt. »So sehr ich die Zusammenführung von Alt und Neu liebe – hier funktioniert es nicht, und ich möchte es auch nicht forcieren.« Wie ein Gewebe erscheint ihr das Schloss, an dem viele Generationen mitgewirkt haben. Dieses Gewebe soll erhalten bleiben. Und in den eher überschaubaren Zimmern der Renaissance könne man sehr gut wohnen.
Keine Disruption also, was die Einrichtung betrifft oder allgemeiner gefasst: Keine Disruption um jeden Preis. Es gibt zwar Führungen, doch Jeannette zu Fürstenberg bewohnt kein Museum. Die Nähe zur Gegenwartskunst, zu den GegenwartskünstlerInnen, ist ihr wichtiger als Sammeln. So ist die Idee zum Stipendienprogramm Fürstenberg Zeitgenössisch entstanden, das 2011 begonnen wurde. Jedes Jahr in den Sommermonaten lädt die Familie Künstler nach Heiligenberg ein, lebt mit ihnen, gibt ihnen ein Atelier und drei Monate Zeit. Man isst zusammen, tauscht sich aus, öffnet alle Türen. So teilt das Paar die Renaissance-Zeitkapsel, in der es lebt. Die Fürstenberger haben jahrhundertelang alle nur denkbaren Dinge gesammelt, nicht wenige davon lagern auf Heiligenberg, und nicht alle sind öffentlich zugänglich, wie die etwas gruselige Schädelsammlung. »Die Künstler flippen aus, wenn sie die Sachen auf dem Speicher sehen«, sagt Jeannette.
In Donaueschingen unterhält Fürstenberg Zeitgenössisch Ausstellungsräume, in denen die Stipendiaten ihre Werke zeigen. Keren Cytter und Matthew Ronay waren schon zu Gast, Petrit Halilaj und Trisha Baga. Zur Sammlung gehören Werke von Juliette Blightman, Carina Brandes, Kasia Fudakowski, Gareth Moore, Kai Althoff, Andreas Slominski und Dirk Bell, der im Schloss eines seiner Deckenbilder realisiert hat.
Die größte intellektuelle Faszination für Jeannette zu Fürstenberg geht davon aus, dass kreative Menschen in der Kunst wie in der Wirtschaft »innere Bilder haben, die sich nicht mit dem decken, was sie in der Wirklichkeit wahrnehmen, und die dann diese inneren Bilder der Realität entgegenhalten. Es ist eine ähnliche Kraft, die da wirkt. Da von Anfang an dabei zu sein, diese Fragmente des Neuen lesen und hier und da übersetzen zu können, das ist etwas, wofür ich brenne.«
Sie lernt von Künstlern, um die Ecke zu denken. Beinahe jede Woche ist die Investorin für ein, zwei Tage unterwegs, um in Europas Metropolen Start-ups zu begutachten. Sie hat einen Investmentfonds mitgegründet, La Famiglia. Er verbindet zwei Welten, die auf den ersten Blick wenig miteinander zu tun haben: Großunternehmen und Gründerszene. Rund 2 000 Firmen schaut sie sich jedes Jahr an, in 23 ist der Fonds bereits investiert. Das Geld kommt unter anderem von den Unternehmerfamilien Solvay, Viessmann und Swarovski. Beide Seiten sollen profitieren, die Industrie von innovativen Ideen und Technologien, die Start-ups von Erfahrung, Marktzugang und den Kontakten der Etablierten.
Woher kommt diese Überzeugung, dass man altes Erbe, neue Kunst und die Geschäfte der Zukunft einfach so miteinander verbinden kann? Wer sich länger mit Jeannette zu Fürstenberg unterhält, fragt sich bald, warum nicht mehr Leute so denken. Vielleicht, weil Viele Veränderung als Risiko erleben, als Bedrohung.
Sie nicht. Es sind im Wesentlichen zwei Dinge, die zu Fürstenberg antreiben: das Bewusstsein, in einer Zeit großer, technologiegetriebener Umbrüche zu leben, und das Beispiel ihres eigenen, bürgerlichen Großvaters. Kristian Rademacher-Dubbick wurde mit 28 Jahren zum Unternehmer, obwohl er eigentlich Maler sein wollte. Ihn nennt Jeannette ihren »Referenzpunkt im Leben«. Als junger Mann wohnte er ein Jahr bei Emil Nolde und traf im besetzten Paris Picasso und Matisse. Doch als sein Onkel starb, war Schluss mit Boheme. Auf ihn warteten die Schwebekörper-Durchflussmessgeräte, die die Krohne GmbH produziert. Aber Rademacher hielt den Kontakt zu den Künstlern, führte ein offenes Haus, »ein inoffizielles Stipendiatenprogramm«, wie die Enkelin es nennt. »An unserem Tisch saßen Künstler, Physiker, Literaten und Quantenchemiker«, erzählt sie. »Was mich immer fasziniert hat, ist, dass er diese Kultur, seinen Ideenreichtum von der Kunst auf das Unternehmen übertragen hat. Er hat, ohne es zu wissen, immer disruptiv gedacht.« Dieses Transferdenken machte das Unternehmen groß, davon ist Jeannette überzeugt – heute beschäftigt Krohne über 3 000 Mitarbeiter. Sie selbst hat ihre Begeisterung für Technologie vom Großvater vermittelt bekommen. Und auch ihre Doktorarbeit handelt von einer Familie, die sich mit Künstlern umgeben und gleichzeitig gute Geschäfte gemacht hat: den Medici. Ein moderner Renaissance-Mensch, glaubt zu Fürstenberg, lässt sich gerade von Feldern inspirieren, die nicht direkt mit der eigenen Arbeitswelt zu tun haben.
Wenn sie sich hier im Schloss jetzt den Rittersaal anschaue, der vor 440 Jahren erschaffen wurde, dann sollte man das nicht nur als etwas Altes, Überliefertes feiern, sondern sich auch einmal in den Moment versetzen, bevor er Wirklichkeit wurde, in die Seed Stage der Renaissance gewissermaßen. »Man muss sich ja auch in die Ideenwelt eines Künstlers reindenken, um seiner Vision folgen zu können. Filippo Brunelleschi hat die Kuppel für den Dom von Florenz gezeichnet. Viele glaubten, der Bau sei unmöglich, aber die Medici haben gesagt: Wir tragen das mit. Das war auch ein Risiko.« Ein Risiko, das sich gelohnt hat: Die Kuppel steht heute noch. Genau wie Schloss Heiligenberg.